Lifestyle
Stella Deetjen und die “vergessenen Menschen“ von Mugu
“Eine ganz neue Zeit beginnt“
(Quelle: Back to Life)
GDN -
Viele Jahre hat Stella Deetjen hilfsbedürftigen Menschen in Indien zu einem lebenswerten Dasein verholfen. Derzeit widmet sie ihre Aufmerksamkeit den “vergessenen Menschen“ in Mugu, einer Bergregion in Nepal, und hat dort bereits Erstaunliches bewirken können.
Es ist schon spät am Abend als der kräftige Schrei eines Neugeborenen aus einem Steinhaus in Seri, einem kleinen Dorf in den Bergen Nepals, ertönt. Überglücklich hält die 29jährige Sada ihren 2,5kg schweren Sohn in ihrem Arm. Mutter und Kind sind bei bester Gesundheit und werden von einer Hebamme medizinisch betreut. Das Kind trägt farbenfrohe Babykleidung und ist zudem in eine warme blaue Decke gewickelt. All dieses ist keine Selbstverständlichkeit, denn noch vor wenigen Wochen hätte der Junge in einem dreckigen Kuhstall oder unter freiem Himmel, ohne jegliche medizinische Versorgung, das Licht der Welt erblickt. Seine Überlebenschancen wären weitaus geringer gewesen.
Dass der Start in das neue Leben ohne jegliche Komplikationen und in einer menschenwürdigen sowie hygienischen Umgebung erfolgt ist, bezeichnet der stolze Vater Rupdhan als “ein großes Wunder“. Zu verdanken hat die junge nepalesische Familie all dies einer Frau aus dem fernen Deutschland. Vor einigen Jahren hörte Stella Deetjen von den “vergessenen Menschen“ in Mugu, einer Bergregion in Nepal. Entsetzt über die dort vorgefundenen Lebensbedingungen, beschloss die Entwicklungshelferin, sich dieser Menschen anzunehmen und ihre Lebenssituation grundlegend zu verändern.
Ihre gemeinnützige Arbeit hat Stella Deetjen in den 1990er Jahren begonnen, als sie sich zunächst um Leprakranke in der indischen Stadt Benares gekümmert hat. Mit der Gründung des Vereins “Back to Life“ und dem aufkommenden Interesse der Medien konnte sie ihre Hilfe zunehmend ausdehnen und hat mittlerweile Kinderheime und Schulen in Indien ins Leben gerufen. Über die großartige Entwicklung ihrer Arbeit wurde kürzlich bereits an dieser Stelle berichtet (http://www.mariograss.germandailynews.com/bericht-36357/stella-deetjen-laesst-die-hoffnungslosen-nicht-alleine.html).
Seit 2009 hat sich Stella mit Mugu, eine Bergregion am Rande des Himalajas in Nepal, einer weiteren Region zugewendet. “Es ist eines der ärmsten Gebiete der Welt. Die Menschen dort sind abgeschnitten von jeglicher Zivilisation, keine Straße führt in dieses oder aus diesem Gebiet. Aktuelle Informationen oder Wissen kommen in Mugu nur schwer oder gar nicht an. Deshalb nenne ich die Menschen dort ´die vergessenen Menschen´. Sie sind nicht an den Rest Nepals angebunden“, erläutert sie. Die Lebensbedingungen vor Ort seien mittelalterlich, die Lebenserwartung läge bei 44 Jahren, die Kindersterblichkeit ist eine der höchsten weltweit. Es gibt keinen Strom, kaum Zugang zu Trinkwasser und keinen Güteraustausch.
Stella Deetjen berichtet mir über die Anfänge des Projekts. “Wir haben einen Fragebogen entwickelt, mit dem unsere Projektmanager in das erste Dorf gegangen sind. Es ging zunächst darum, die Gegebenheiten zu analysieren. Gibt es Besitz? Welche Krankheiten kommen vor? Welche religiösen Vorstellungen herrschen vor? Welche Fähigkeiten und Kompetenzen sind vorhanden? Wir haben diese Fragebögen ausgewertet und die Optimierung der Landwirtschaft, die Verbesserung der hygienischen Bedingungen, medizinische Hilfe und die Förderung von Bildung als zentrale Themen analysiert.“
Erst als das Konzept entwickelt war und die Genehmigung der nepalesischen Regierung vorlag, sei auch sie selbst zum ersten Mal in die Region gereist. Stella berichtet mir von dem beschwerlichen Anreiseweg. Entweder müsse man tage- oder auch wochenlang hinauflaufen oder in abenteuerlich alten Flugzeugen (“zwei von fünf sind bereits abgestürzt“) einfliegen. Zur Landung stehe eine Schotterpiste, die in einen Berg geschlagen wurde, zur Verfügung. Als die Dorfbewohner die große, weiße Frau mit ihren langen Dreadlocks zum ersten Mal sahen, reagierten diese geradezu erschrocken. “Als mich ein Kind, das ich auf dem Schoß hatte, zur Begrüßung angepinkelt hatte, lachten alle herzlich. Damit war das Eis gebrochen“, erinnert sich Stella lachend.
Das vor 5 Jahren gestartete Projekt sieht ein Bündel an Maßnahmen vor. Ein Hygienebewusstsein sei bei den Bewohnern Mugus schlicht nicht vorhanden und Toiletten seien unbekannt gewesen. “Back to Life“ organisiert Schulungen zu dieser Thematik und ermöglicht, durch die Vermittlung von Know-how und Bereitstellung von entsprechenden Materialien, den Menschen den Bau von Toiletten, mit dem Ziel, dass am Ende des Projektes die Bewohner jedes Hauses ein eigenes Toilettenhäuschen besitzen.
Ich frage Stella, wie man gerade in solch einem sensiblen Bereich, als Frau, die einer fremden Kultur entstammt, zu einer überzeugenden Autorität werden könne. “Das geschieht einfach durch Vormachen und die spürbaren Erfolge“, erklärt sie mir. “Die Menschen haben selbst festgestellt, dass sie seltener krank sind, wenn sie Toiletten benutzen. Das spricht sich dann ganz schnell herum und motiviert andere Bewohner sich auch eine Toilette zu bauen. Das gleiche Prinzip hat auch bei der Ernteoptimierung funktioniert.“
Die karge Landschaft, die allgemein ungünstigen landwirtschaftlichen Bedingungen sowie die extreme Höhenlage verursachen eine permanente Lebensmittelknappheit. Einzelne Haushalte erhielten an die örtlichen Bedingungen angepasstes Saatgut und als die erste Gemüseernte erfolgte, baten umgehend auch andere Familien, die womöglich zunächst skeptisch waren, um die Sämereien. Erstmals ist es in der kargen Region gelungen, grünes Blattgemüse zu kultivieren. Um die Nachhaltigkeit sicherzustellen, wurden die Bewohner darin geschult, aus der Ernte jeweils die Samen für die nächste Aussaat aufzuheben.
Das Thema Bildung hat für Stella Deetjen seit jeher höchste Priorität, denn nur wenn die Menschen lesen und schreiben können, sind sie in der Lage sich zu informieren, bestimmte Rechte einzufordern und an ihrer Situation eigenständig etwas zu verändern. Durch den Bau von bisher vier, von insgesamt acht geplanten, Schulgebäuden und weiteren Maßnahmen zur Ausbildungsförderung, wie z.B. die Ausstattung bestehender Schulen, haben mittlerweile etwa 4.000 Kinder in Mugu die Chance eine grundlegende Bildung zu erhalten.
Die Darstellung aller bereits erfolgten Maßnahmen würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Mittlerweile haben die Menschen sogar Licht in ihren Häusern und können sich durch die Vergabe von Kleinstkrediten Existenzen aufbauen. Auf der Homepage von “Back to Life“ (www.back-to-life.org) wird das Gesamtprojekt ausführlich dargestellt.
Eine Veränderung, die Stella mit ihrem Team insbesondere für die Frauen Mugus erreicht hat, soll hier aber dennoch gesondert erwähnt werden, weil hiermit exemplarisch die Art und Weise verdeutlicht werden kann, wie “Back to Life“ arbeitet. Die Projekte werden nicht am entfernten Schreibtisch entwickelt, sondern entstehen aus der konkreten Situation heraus.
Eine Veränderung, die Stella mit ihrem Team insbesondere für die Frauen Mugus erreicht hat, soll hier aber dennoch gesondert erwähnt werden, weil hiermit exemplarisch die Art und Weise verdeutlicht werden kann, wie “Back to Life“ arbeitet. Die Projekte werden nicht am entfernten Schreibtisch entwickelt, sondern entstehen aus der konkreten Situation heraus.
Während eines Besuches in der Region wurde Stella klar, dass die enorme Kindersterblichkeit in Mugu nicht allein in den kargen Lebensumständen begründet ist, sondern auch mit einem althergebrachten Aberglauben zusammenhängt, der besagt, dass wenn eine Frau blutet, weil sie ihre Periode hat oder ein Kind zur Welt bringt, sie das Haus verlassen muss, um die Gottheiten nicht zu erzürnen. Stella erzählt mir, dass sie in Mugu Sushila kennengelernt hat, zu der sie eine besonders enge, freundschaftliche Beziehung pflege. Diese habe sie eines Tages in einen stockfinsteren, bestialisch nach Tierfäkalien stinkenden Kuhstall geführt.
“Ich war sofort am ganzen Körper von Schmeißfliegen bedeckt. Dann hat mir Sushila erzählt, dass in solchen Ställen die Frauen ihre Kinder zur Welt brächten. Ich war total geschockt.“ Ohne irgendeine Art von Hilfe, müssen die Frauen hier die Geburt und die folgenden 20 Tage auf sich alleine gestellt überstehen, bis sie in ihr Haus zurückkehren dürfen. Die gesundheitlichen Folgen für die Frauen und die Neugeborenen sind fatal.
Sollte schwangeren Frauen kein Stall zur Verfügung stehen, bringen sie ihre Kinder draußen in den Wäldern zur Welt. Nicht selten erfrieren die Säuglinge in der eisigen Kälte, ziehen sich erhebliche Verletzungen auf dem steinigen Untergrund zu oder - es klingt nach mittelalterlicher Märchenwelt, aber es passiert tatsächlich heutzutage auf unserem Planeten - werden von Schakalen weggetragen und gefressen. Als sie den Kuhstall verlassen hätten, sei ihnen zufällig eine Schwangere begegnet, erzählt Stella weiter. “Die nackte Angst vor dem Bevorstehenden stand der Frau ins Gesicht geschrieben.“ Das habe sie so sehr berührt, dass sie augenblicklich entschieden habe, einen Weg zu finden, diese Situation zu verändern.
Ihr Sohn, der Stella bei jenem Aufenthalt in Mugu begleitet hatte, habe spontan die Idee gehabt, die Kuhställe auszubauen. Ein Gedanke, der sich als nicht praktikabel erwies, aber bereits in die richtige Richtung zielte. In vielen Gesprächen mit den Bewohnern sowie den Schamanen entwickelte man gemeinsam die Idee der Geburtshäuser. Auch die Schamanen, deren Stimme großes Gewicht hat, äußerten, dass solange in den geplanten Geburtshäusern keine Gottheiten aufgestellt würden, auch keine Gefahr bestünde, diese zu erzürnen. Das erste Haus, das die Lebenswelt der Frauen im Dorf grundlegend verändern wird, wurde in gemeinschaftlicher Handarbeit errichtet und konnte Ende 2012 eingeweiht werden.
Nur zwei Tage nach der Fertigstellung fand bereits, begleitet von einer Hebamme die erste Geburt statt. Ohne Komplikationen erblickte “Pradeep“ (Lichtstrahl) das Licht der Welt. Zum ersten Mal hat eine Frau in dieser Bergregion eine menschenwürdige Geburt, in einer geschützten Atmosphäre, unter hygienischen Bedingungen und mit fachkundiger Begleitung einer Hebamme, erlebt. Für die Frauen Mugus hat ein neues Kapitel begonnen. Sushila äußerte glücklich: “Keine Frau aus unserem Dorf wird mehr in einem Viehstall gebären müssen und unsere Babies werden nicht mehr erfrieren oder durch den Schmutz sterben. Die Frauen müssen nicht mehr verbluten. Eine ganz neue Zeit beginnt für uns.“
Die Projekte von “Back to Life“ sind auf Langfristigkeit und Selbstverantwortung der Betroffenen angelegt. Dieses Prinzip gilt auch für das Geburtshausprojekt. Deshalb wird fortan jungen Frauen aus Mugu die Ausbildung zu Hebammen, sowie jungen Männern und Frauen die Ausbildung zu Krankenpfleger/innen, finanziert. Im März dieses Jahres konnte bereits das zweite Geburtshaus, in dem die oben erwähnte Sada ihren Sohn zur Welt brachte, eröffnet werden und ein drittes befindet sich bereits im Bau.
Mit zunächst 5 Dörfern hat “Back to Life“ das Projekt in Mugu vor 5 Jahren begonnen. Nach 3-5 Jahren Unterstützung soll im jeweiligen Dorf die Basis gelegt sein, die es der Bevölkerung ermöglicht, selbstständig das Erreichte zu erhalten und auszubauen. Ab dem Zeitpunkt verlassen die Entwicklungshelfer das Dorf, was eine stetige Erweiterung des Einflussbereiches ermöglicht. Mittlerweile konnten 18.000 Menschen erreicht werden, was etwa einem Drittel der Bevölkerung Mugus entspricht. Doch für Stella ist das nur Ansporn für weiteres Engagement. Das Ziel ist klar: Innerhalb der nächsten 10 Jahren will sie alle Menschen in Mugu erreicht haben.
Durchdringend blickt mich Stella mit ihren leuchtend blauen Augen an und stellt mit fester Stimme, die keinen Zweifel aufkommen lässt, klar: “Die Kindersterblichkeit in Mugu wird sinken!“ Um dieses Ziel zu erreichen, benötigt sie natürlich die Unterstützung von Spendern. Auf der Homepage von “Back to Life“ (www.back-to-life.org) werden Möglichkeiten genannt, wie man helfen kann. Durch Geburtshauspatenschaften können beispielsweise die bereits bestehenden Geburtshäuser am Laufen gehalten, neue Geburtshäuser realisiert sowie die Hebammen und benötigten Medikamente finanziert werden.
Gemeinsam mit dem Team von “Back to Life“ und den Spendern, wird es Stella Deetjen in den nächsten Jahren gelingen eine der weltweit höchsten Sterberaten von Müttern und Kindern zu senken. Tausenden Menschen wird die Chance auf ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, denn dank Stella Deetjen sind die “vergessenen Menschen“ in Mugu fortan nicht mehr vergessen.
weitere Informationen: https://www.back-to-life.org
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