Lifestyle
Stella Deetjen lässt die Hoffnungslosen nicht alleine
...die Welt ein bisschen schöner machen
(Quelle: Back to Life)
GDN -
Seit zwanzig Jahren verhilft Stella Deetjen Menschen in Indien und Nepal zu einem lebenswerten Dasein. Was mit einer Urlaubsreise begann, entwickelte sich zu einer Lebensaufgabe. Mit ihrem Verein “Back to Life“ hat die Entwicklungshelferin bereits zahlreiche unterstützenswerte Projekte initiiert.
Stella Deetjen blinzelt in die Sonne und schüttelt lachend den Kopf: “Es ist unvorstellbar, was sich aus ganz kleinen Anfängen entwickelt hat.“ Bevor sie in ein paar Tagen nach Kathmandu aufbricht, habe ich die Entwicklungshelferin in ihrer Heimat im Taunus getroffen. In einem Café unterhalten wir uns ausgiebig über die erstaunliche Entwicklung, die ihre Arbeit in den vergangenen Jahren genommen hat.
Vor gut 20 Jahren, bevor sie ihr geplantes Studium aufnehmen wollte, bereiste die junge Frau als Rucksacktouristin Indien. In der heiligen Pilgerstadt Benares ereilte sie das Schicksal vieler europäischer Touristen, die mit der Verträglichkeit der dortigen Küche Schwierigkeiten haben. Sie hockte auf einer der vielen Treppen, die zum Ganges hinabführen und hielt sich mit verzerrtem Gesicht den schmerzenden Bauch. Ein Bettler trat an sie heran. Auch ohne seine Sprache zu verstehen, war Stella klar, dass dieser sie nicht um Geld bat, sondern besorgt war und ihr helfen wollte.
Der Blick der leidenden Touristin fiel auf die weiße Haarmähne des Bettlers, auf sein von Entbehrungen gezeichnetes Gesicht und dann auf seine verstümmelten Hände und Füße. Stella begriff sogleich, dass ihr ein Leprakranker gegenüberstand, und war tief berührt, dass ausgerechnet dieser Mann ihr, einer vergleichsweise reichen europäischen Touristin, Hilfe anbot. Der Kranke schaute Stella liebevoll an und segnete sie. Sie fragte ihn nach seinem Namen. “Musafir“, antwortete der Mann, der nun auch emotional berührt war, denn nach seinem Namen habe ihn schon seit vierzehn Jahren niemand mehr gefragt.
Gleich am folgenden Tag suchte Stella Musafir erneut auf, um ihm für seine Hilfsbereitschaft zu danken. Weitere Leprakranke gesellten sich dazu und es entwickelten sich lebhafte Gespräche in Zeichensprache. Die folgenden Wochen verbrachte Stella inmitten der Leprakranken, die, ausgestoßen von der Gesellschaft, ihr Dasein auf den staubigen Straßen, unter unmenschlichen Bedingungen, fristeten. Sie trank mit ihnen gemeinsam Tee, besorgte Papier und Stifte und malte mit ihnen Bilder. “Das ganze Götterpanorama haben wir gemalt“, erinnert sie sich lachend. Es entstanden freundschaftliche Beziehungen. Je nach Alter nannten die Bettler Stella “Schwester“, “Tochter“ oder “Enkelin“.
Spätestens als Stella Zeugin einer willkürlichen Massenverhaftung wurde, realisierte sie, wie menschenunwürdig die Leprakranken nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von behördlicher Seite behandelt werden. In der jungen Frau wuchs der Wunsch die mittel- und hoffnungslosen Menschen nicht alleine zu lassen, sondern ihnen zu helfen. Sie beschloss in Indien zu bleiben, zunächst für zwei Jahre, um erst dann ihre geplante Berufsausbildung aufzunehmen. Aus den 2 Jahren entwickelte sich eine Lebensaufgabe.
Musafir ist vor einigen Jahren verstorben. “Es war eine Erlösung für ihn“, schildert mir Stella. Sie selbst habe ihn, mit Steinen an den Füßen beschwert, im Ganges versenkt, denn die rituelle Verbrennung wird den verstorbenen Leprakranken verwehrt. Selbst noch über den Tod hinaus trifft die völlige gesellschaftliche Isolation die Betroffenen. Dabei ist Lepra gar nicht derart ansteckend, wie Allgemeinhin angenommen wird und zudem in jedem Stadium vollständig heilbar. Nach einer maximal zwei Jahre dauernden Therapie, die umgerechnet etwa 50 Euro kostet, ist der Betroffene gesund.
Stella Deetjen begann im Freundeskreis, in der Nachbarschaft und innerhalb der Familie Geld zu sammeln, um die entsprechenden Medikamente zu kaufen. “Jahrelang kannte ich jeden Spender persönlich“, erinnert sie sich. “Das funktionierte alles nur mit Mund-zu-Mund-Propaganda.“ Ihr Bruder, der Stella in Indien besuchte, um sich zu vergewissern, dass es seiner Schwester gut geht und ursprünglich wohl auch, um sie zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen, erkannte, nachdem Stella ihm die Situation der Leprakranken gezeigt hatte, dass man vor diesem Leid nicht die Augen verschließen darf. Als gelernter Jurist erfasste er aber auch, dass effiziente Hilfe nur möglich ist, wenn geeignete Strukturen geschaffen würden.
Zurück in Deutschland, gründete er den Verein “Back to Life e.V.“ (www.back-to-life.org) und während seine Schwester im fernen Indien Projekte iniziierte, schuf ihr Bruder die nötigen strukturellen Rahmenbedingungen. Auch er engagierte sich mit ganzem Herzen, bis ihn schließlich eine schwere Erkrankung traf. Vor wenigen Monaten ist Wolf Deetjen verstorben. Ein Schock, der Stella noch deutlich anzumerken ist und sie derzeit auch dazu veranlasst, häufiger und länger in Deutschland bei ihrer Mutter und ihrem Freundeskreis zu sein. Ohne Wolf Deetjen wäre vieles, was mittlerweile in Indien und Nepal erreicht wurde, nicht möglich gewesen.
Erst nachdem Stella bereits zahlreiche Jahre aufopferungsvoll im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten Hilfe geleistet hatte, wurde die nationale Presse auf sie aufmerksam. Es erschienen Artikel in der FAZ und in der Vogue. “Ich habe der Vogue damals das Versprechen abgerungen, dass wenn Fotos von mir erscheinen, auch das Foto eines Leprakranken abgedruckt wird. Das war mir Sicherheit der erste Leprakranke, der es in die Vogue geschafft hat“, lacht sie. 2006 wurde ihr in New York der “Women´s World Award“, aus den Händen von Michail Gorbatschow, verliehen. Die mediale Aufmerksamkeit veränderte alles. “Wir bekamen plötzlich aus ganz Deutschland Spenden und ich war nicht mehr die `Verrückte`, als die ich vorher angesehen wurde.“
Mittlerweile leistet “Back to Life“ medizinische und soziale Hilfe für Leprakranke, hat Kinderheime und Schulen errichtet, hat tausenden Menschen ein Stück ihrer Würde zurückgegeben und beschäftigt mehr als 100 Angestellte in Indien und Nepal. Das Ausmaß des bereits Erreichten ist enorm, sodass eine umfassende Darstellung den Umfang dieses Berichtes sprengen würde. Die Homepage des Vereins gibt hierzu detailliert und reichlich bebildert Auskunft (www.back-to-life.org).
Exemplarisch sei hier die Geschichte von Rahul, einem der Ersten, dem die Hilfe von “Back to Life“ zukam, erwähnt. Stella lernte ihn 1994 im Alter von vier Jahren kennen. Als Sohn einer verarmten Familie, musste er sich - als vierjähriger! - seinen Lebensunterhalt bereits selbstständig verdienen und lebte als misshandeltes und ausgenutztes Kind auf der Straße. 1996 ermöglichte Stella erstmals einer Gruppe von Straßenkindern den Schulbesuch, unter ihnen auch Rahul. Er wuchs in einem von “Back to Life“ errichteten Kinderheim auf, bestand 2008 sein Abitur und schloss drei Jahre darauf sein Studium an der Universität in Benares ab, gefolgt von einem Studiengang am Goethe-Institut in Kathmandu.
Stolz berichtet Stella, dass er mittlerweile eine Anstellung als Deutschlehrer gefunden habe. Eine geradezu märchenhafte Erfolgsgeschichte. Bis heute besucht Rahul, wann immer er in der Nähe ist, das Kinderheim in Benares, in dem er groß geworden ist. “kaha jahu, yehi hai mera ghar“, sagt er. (Wo sonst soll ich hingehen, denn dies ist mein Zuhause.) Von einem obdachlosen Straßenkind, dessen düstere Zukunft vorbestimmt zu sein schien, gelangte Rahul zu einem selbstbestimmten und glücklichen Leben.
Mit der beträchtlichen Ausdehnung der Tätigkeiten haben sich in der Folge Stellas Aufgaben und Verantwortlichkeiten verändert. Zwar sei sie noch immer vor Ort, bei den betroffenen Menschen, aber reichlich Arbeitszeit verbringe sie nun auch am Schreibtisch, vor dem PC und mit dem Telefon in der Hand. Ich frage sie, ob sie sich manchmal nach den Zeiten zurücksehne, als ihre Tätigkeit noch überschaubarer war. Sie überlegt einen Moment und erinnert sich an einen Satz, den sie kürzlich von Reinhold Messner gehört habe: “Ich suche mir die Herausforderungen meinem Alter entsprechend aus.“ “Ein bisschen ist das auch bei mir so. Manches was ich vor zwanzig Jahren gemacht habe, könnte ich heute körperlich gar nicht mehr unbeschadet überstehen.“
Bei sämtlichen Projekten, die Stella Deetjen iniziiert, steht stets die Eigenaktivität der Betroffenen im Zentrum. Sie stülpt ihnen nicht einfach ungefragt Hilfe über, wie es manch andere weltumspannende Organisation tut und somit letztlich neue Abhängigkeiten schafft. Ziel der Projekte von “Back to Life“ ist es, die Menschen dazu zu befähigen ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und Teilhabe an der Gesellschaft zu erlangen.
Seit nunmehr 20 Jahren pendelt Stella zwischen zwei Welten. Die Zeit in Deutschland nutzt sie um Spenden zu sammeln, Vorträge zu halten und in den Medien für ihre Anliegen zu werben. Sie freue sich aber auch auf Brot und Käse, wenn sie in ihre Heimat komme. “Und jetzt war gerade Spargelzeit. Ich liebe Spargel!“, schwärmt sie. “Und ab und an mal Sauerkraut mit Rippchen mag ich auch.“ In ein paar Tagen fliegt sie wieder zurück nach Kathmandu. “Da freue ich mich besonders auf soziale Kontakte. In Indien und Nepal ist das Leben viel weniger anonym als hier und auch nicht so fremdbestimmt. Hier in Deutschland stehen ja mittlerweile überall Hinweisschilder, die Auskunft darüber geben, wie ich mich zu verhalten habe.“
“Gemeinsam wird selbst eine unmögliche Aufgabe lösbar, ich bin bereit, meinen ganzen Einsatz, meine Energie, Erfahrung, Arbeit und meine Herzenskraft zu geben, um eine sichtbare Veränderung herbeizuarbeiten. Bitte fügen Sie einen Tropfen hinzu.“ Diese Worte sprach Stella 2006 in ihrer Dankesrede beim Erhalt des “Women´s World Award“ und sie würde es sicherlich heute ähnlich formulieren. Ihre Tätigkeit ist auf Spenden und Patenschaften angewiesen. Auf www.back-to-life.org werden Möglichkeiten genannt, wie man aktiv mitwirken kann, um Projekte aufrechtzuerhalten, auszuweiten und die Lebenssituation von Menschen dramatisch zu verbessern.
In nicht wenigen Artikeln, die bislang über sie erschienen sind, wird Stella als “Heilige“ bezeichnet. Ich bin mir mit ihr schnell einig, dass wir diese Bezeichnung als befremdlich empfinden, da Menschen auch von - wie auch immer gearteten - persönlichen Anreizen geleitet werden. “Bei mir war das am Anfang sicher die Suche nach Liebe“, bekennt sie freimütig. “Und die Liebe der Menschen macht mich glücklich.“ Es ist angenehm, dass Stella sich und ihre Arbeit nicht mystifiziert, sondern recht sachlich und bodenständig betrachtet. “Es ist einfach schön morgens zu wissen, dass ich mit meiner Tätigkeit der Welt zumindest nicht schade und sie für manche sogar ein bisschen schöner machen kann.“
Gemeinsam mit ihren Mitarbeitern, widmet Stella ihre Energie und Arbeit derzeit einer weiteren, bislang geradezu vergessenen Region, um dort das Leben für die Menschen “ein bisschen schöner zu machen.“ Auch hierüber habe ich mit ihr gesprochen. Was sie dort bereits erreicht hat, ist überaus bemerkenswert. Schon in Kürze wird zu diesem aktuellen Projekt ein weiterer Bericht folgen.
weitere Informationen: https://www.back-to-life.org
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